Uwe Hartmann/Claus von Rosen/ Christian Walther (Hrsg.): Jahrbuch Innere Führung 2011 – Ethik als geistige Rüstung für Soldaten, Hartmann Miles – Verlag, Berlin 2011, 336 S., ISBN 978-3-937885-40-7, 24,80 Euro

 

Es ist „…heute ruhig, geradezu gespenstisch ruhig um die Führungsphilosophie der Bundeswehr und ihre Weiterentwicklung. Innere Führung verdorrt und vertrocknet jedoch, wenn sie ihre Lebendigkeit und ihre Stärke nicht in einer so kritischen Phase wie jetzt unter Beweis stellen darf“, so der Mitherausgeber des Jahrbuches Innere Führung 2011, Uwe Hartmann.

Hat die Baudissin‘sche Idee also ausgedient ?

Wie muss eine „Berufsethik“ formuliert sein, die den heutigen Bedingungen eines soldatischen Selbstverständnisses im Einsatz und im Gefecht genügt – und das in der Spannbreite von einem übergeordneten Wertehorizont bis hin zu der Normensetzung eines „ethischen Kampfprofils“ im Sinne Dietrich Ungerers.

Was also leistet das Jahrbuch 2011 an Denkanstößen zu diesem eminent wichtigen Themenkomplex ?

In insgesamt 18 Einzelbeiträgen werden grundsätzliche Fragen zu „Werten“ (Christian Walther), „Ethischer Verantwortung“ (Michael Moerchel) und „Legitimation“ (Peter Buchner) beleuchtet – aber auch konkrete neue Ansätze zum Thema „Rules of Engagement und Auftragstaktik“ (Dirk Freudenberg) und „Einsatzethik“ (Dietrich Ungerer) angeboten.

Besondere Themenaspekte sind

  • o       eine kritische Bewertung der komplexen, zivil-militärischen Afghanistan-Mission als Nagelprobe deutscher Strategiefähigkeit (Klaus Naumann),
  • o       ethische Verwundungen (PTBS) mit dem Hinweis auf intensiven Forschungsbedarf zur Bedeutung ethischer Aspekte für die psychische Gesundheit von Soldaten (Stefan Siegel / Jörn Ungerer / Peter Zimmermann),
  • o       aber auch ein Praxisbericht zur ethischen Bildung an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg (Daniel Drechsler / Uwe Hartmann / Christian Spitzer).

Interessant und lehrreich auch ein Blick in die US-amerikanischen Streitkräfte mit der Darstellung von „…ethischem Fehlverhalten einzelner Generale [im Irak- und Afghanistaneinsatz], vor allem deren Ablehnung des Primats der Politik, deren starke Fokussierung auf Operationsführung bei Vernachlässigung der Strategie, deren zunehmende Politisierung und schließlich deren Karrierestreben mit den Begleiterscheinungen von Risikovermeidung, Abwälzen von Verantwortung und Konformität.“ (Donald Abenheim / Carolyn Halladay)

 

Der besondere Reiz dieses Jahrbuches liegt eben auch darin, dass Raum für kritische, herausfordernde Thesen gegeben wird, die es lohnt, innerhalb der Bundeswehr wie auch darüber hinaus ohne die Einhaltung einer lähmenden „political correctness“ lebendig, kontrovers aber weiterführend zu diskutieren.

So im Besonderen

  • ·        der Beitrag Peter Buchners „Legitimität & Ethik“, in dem er den Wandel des Legitimitätsanspruches herausarbeitet und feststellt „… Verbunden ist damit der Übergang von der gesellschaftlichen zur politischen Orientierung – von der „Armee des Volkes“ zur „Armee des Staates“. … Die Grenzen und Gewichte der unterschiedlichen Kategorien von Legitimität verschieben sich. Gelingt eine überzeugende Einsatzbegründung nicht, bleibt beim Soldaten … ein fader Beigeschmack in einem unklaren Gemisch aus ethischen und politischen, aber auch rechtlichen und gesellschaftlichen Argumenten. Der Ethik kommt dabei ein weiteres Mal die Rolle des persönlichen Maßstabs zu, wenn der Soldat die Verantwortung für sein Handeln übernehmen muss. Das wären Punkte, wo der Legitimitätsanspruch unerfüllt bliebe und der Soldat das Gefühl hat, in einem „seltsamen Krieg“ zu sein.“

 

  • ·        Claus von Rosen „Ethik & Strategie“ mit der Quintessenz, „… die künftige Führerausbildung hat sich darauf zu konzentrieren, über solide fachliche Fähigkeiten hinaus die Befähigung zu vermitteln, Grenzen überschreiten und „Zwischen“ (Georg Simmel) bewegen zu können.“ (Klaus Naumann).

Für den ehemaligen britischen Stabsoffizier Chris Keeble geht es, so Rosen, in seinem Programm „Corporate Ethical Reneval“ um „Sustainability – by enabling leaders to evaluate the integrity of their leadership ethic.“

 

  • ·         Dirk Freudenberg „Rules of Engagement und Ethik“ – er stellt fest: „Die zentrale Frage ist, ob Rules of Engagement … so gestaltet werden können, dass sie den Anforderungen eines Einsatzes auch dann gerecht werden, wenn sich die Sicherheitslage fundamental verändert und die Truppe gezwungen ist, in dynamischen Lagen hochflexibel zu reagieren oder gar in Gefechte hoher Intensität einzutreten.“ Seine abschließende Aussage: „Das Spannungsfeld zwischen rechtlichem und ethisch-moralischem Handeln zu lösen, ist wesentliche Aufgabe des militärischen Führers. Es ist das Rollenbild des deutschen Offiziers. … Gerade den Irregulären Kräften heutiger Einsätze ist ein Führungsverhalten im Sinne eines dynamischen Prinzips entgegenzusetzen, dass sich nicht auf Befehle, Verordnungen und starre ROE abstützt, sondern weitgehend auf die Selbstständigkeit der Unterstellten setzt – das traditionelle deutsche Führungsdenken und die Auftragstaktik.“

 

  • ·         Kai-Uwe Hellmann „Bewährungsprobe – Die Innere Führung im Einsatz“ – Seine Kernfrage: „Funktioniert das Konzept der Inneren Führung auch im Kriegsfall ? … Es liegt nahe, beide Kontexte, Krieg und Frieden, nicht als völlig getrennt, aber auch nicht als völlig kongruent zu behandeln … die Übertragbarkeit des Konzeptes auf den Kriegsfall müsste noch weitergehend erforscht werden. …Ist das Erleben des Kampfgeschehens deutscher Soldaten - die an Existenzialität kaum mehr überbietbare Erfahrung von Töten und Getötetwerden - noch geeignet, den jeweiligen Soldaten jene Reflexionskapazität zuzutrauen, derer es bedarf, um den Anforderungen der Inneren Führung tatsächlich gerecht zu werden ?“ Einfache Antworten auf diese Fragen wird es wohl nicht geben. „Organisationssoziologisch zeichnet sich nur ab, dass es gerade mit Blick auf Soldaten im Einsatz, wo immer öfters das Töten und Getötetwerden die Lage beherrschen, naheliegt, die Innere Führung auch auf diese „Kampfmoral“ einzustellen. Ansonsten handelt es sich beim Konzept der Inneren Führung gewiss um eine Ethik als Reflexionstheorie einer Moral – nur welcher ?“

 

  • ·         Dietrich Ungerer „Auf dem Weg zu einer Einsatzethik“ – Es stellt sich heutigen Tages die Frage, „Hilft eine Ethik den Soldaten … bei ihren Einsätzen ? … Gemessen an den derzeitigen Lagebildern ist …eine Ethik erforderlich, die dem modernen „mosaic war“ und den fortlaufenden neuen militärischen Ereignisfolgen gerecht wird. Das bedeutet, dass eine Ethik für Kampfeinsätze dynamisch-progressive Merkmale aufzuweisen hat. … So gesehen ist eine Ethik weniger aus den kulturellen Vorgaben zu entwickeln, als vielmehr aus den akuten militärischen Lagen. … Die Fragestellung lautet: Gibt es einen ethischen Kampfwert, der unmittelbar einsichtig ist und der nicht weiter reduziert werden kann ? … 

Kernthese: Dieser ethische Kampfwert ist die Evidenz des Überlebens. - Zur Evidenz des Überlebens gibt es keine Alternative. - Eine Alternative zum Überleben ist nicht akzeptabel.

Nur wer sich mit der Gesamtheit seines Lebens identifiziert, kann sein Leben auch verteidigen. Nur, wer sich mit seiner Familie, seinen Kameraden und dem Auftrag identifiziert, kann für diese kämpfen. Lebenszweifel, Zweifel am Auftrag, sozialer Bruch mit den Kameraden oder Konflikte tragen keineswegs zur Stärkung des Überlebens bei.

Tragender Richtwert ist also das eigene Leben - der unumstößliche ethische Auftrag, den ein demokratisches Staatswesen zu vergeben hat. … Die notwendigen Steuerungen der Handlungen übernimmt dann das Gewissen. … Mit dem Gewissen ist eine bewertende und kontrollierende Instanz für die Aktionen im Einsatz gegeben. … Das Gewissen setzt das Überleben und die Ethik vor einem Waffeneinsatz in Relation zueinander. … Die Normenkette sollte ethisch stabil sein …“

Diese Überlegungen Ungerers einer Operationalisierung von Einsatzethik und Gewissen münden ein in ein konkretes Ausbildungskonzept.

 

Zurück zu der Eingangsfrage, ob die Innere Führung „ausgedient“ hat. Übereinstimmend mit Uwe Hartmann kann man nur feststellen, dass es „klüger ist, sich zu überlegen, wie die Innere Führung revitalisiert, verjüngt und überhaupt zur Philosophie einer effizienten und attraktiven Organisation gemacht werden könnte.“

Nur - der Prozess der Revitalisierung muss offensichtlich weitergehen, wie die Thesen der oben genannten Verfasser deutlich machen. Dieser Prozess muss am Ende Antworten geben, welche Auswirkungen sich für ein einsatzorientiertes Führungshandeln ergeben, wie eine „Kampfmoral“ deutscher Soldaten Berücksichtigung findet und wie eine „Einsatzethik“ aussehen müsste.

Mit Kai-Uwe Hellmann ist man geneigt, die damaligen Fragen Baudissins umzuformulieren:

  1.  Weshalb fällt es uns eigentlich schwer, den Krieg ernst zu nehmen – zumindest ebenso wie den Frieden ?
  2.  Weshalb müssen wir heute den Krieg ernst nehmen ?
  3. Was bedeutet es für den Soldaten, wenn er den Krieg ernst nimmt, und wie hat sein Beitrag auszusehen ?

 

Wir stehen am Anfang einer breiten Diskussion ! Es wäre wünschenswert, wenn sich daran in den kommenden Jahrbüchern mehr als bisher einsatzerfahrene Offiziere zu Wort melden und an der Fortschreibung der Führungsphilosophie und einer Militärethik mitarbeiten.

 

So ist dem diesjährigen Jahrbuch 2011 eine breite Leserschaft - in den Offizierkorps wie in der Öffentlichkeit – mit lebendigen Diskussionen zu wünschen - Stoff dazu ist genügend vorhanden !

 

Oberst a.D. Hubertus Greiner

"Panzerspähtrupp (4/2012)"

 

 

 

Buch-Tipp: Jahrbuch Innere Führung 2011

 

Seit über 20 Jahren haben sich die Anforderungen an Soldaten gewandelt, denn der Kalte krieg ist Vergangenheit. Seitdem gibt es eine sicherheitspolitische Debatte über die neuen Aufgaben der Bundeswehr. Eine Diskussion über die Aufgaben von Streitkräften in Zeiten der Globalisierung ist in Gang, hinterlässt die Akteure aber bisher oft unzufrieden.

Innere Führung hat die Aufgabe, die Spannungen zu mindern, die sich aus den militärischen Pflichten des Soldaten einerseits und den individuellen Rechten des freien Bürgers andererseits ergeben. Auslandseinsätze führen beispielsweise zu Veränderungen im Führungsverständnis, denn heutige Einsätze fordern politische Kontrolle.

Oft gibt es in „Jahrbuch Innere Führung 2011“ tatsächlich diskussionswürdige und spannende Themen auf dem Hintergrund der Strukturveränderungen in der Bundeswehr zu erkennen. Die Veröffentlichung des Miles Verlags kann Quelle sein für Leser, die zu bestimmten Thematiken nach vertiefenden, die Diskussion anregenden und substantiellen Aussagen suchen.

 

Barbara Ogrinz in KOMPASS 04/12, S. 18