Oberst a.D. Hubertus Greiner in "Der Panzerspähtrupp", Nr. 54, Januar 2014, S. 57-59

Uwe Hartmann/Claus von Rosen (Hrsg.): Jahrbuch Innere Führung 2013 – Wissen-schaften und ihre Relevanz für die Bundeswehr als Armee im Einsatz, Carola Hart-mann Miles –Verlag, Berlin 2013, 404 S., ISBN 978-3-937885-67-4, 24,80 Euro

 

Mit dem neuen Jahrbuch wird nach den bisherigen Ausgaben - „Die Rückkehr des Soldatischen“ (2009), „Die Grenzen des Militärischen“ (2010), „Ethik als geistige Rüstung für Soldaten“ (2011) und „Der Soldatenberuf zwischen gesellschaftlicher Integration und suis-generis-Ansprüchen“ (2012) - wiederum ein interessantes, anspruchsvolles Thema aufgegriffen - die Wissenschaftsfrage.

 

17 Beiträge - breitgefächert – beleuchten die Rolle der Wissenschaften unter der Fragestellung, welche Möglichkeiten sich dabei

o für die Bundeswehr in ihrem gesellschaftlichen Umfeld,

o für die Herausforderungen an das militärische Führungspersonal und

o an verbesserter Qualifikation für die Einsatzspektren heutiger Zeit bieten.

 

Im ersten Kapitel geht es um die grundsätzliche Frage des „Warum“ von Wissenschaften gerade auch für eine „Armee im Einsatz“ - die Kernaussagen dazu:

 

• Der Reiz und eigentliche Wert des akademischen Studiums liegt in dem erworbenen Methodenwissen, das zur Reflektionsfähigkeit, Problem-Differenzierung und Selbstreflektion befähigt. Am Ende steht – gerade für den militärischen Führer – das Entscheidende: „das selbsterrungene und fundierte Urteil“ - Jörn Thießen, Führungsakademie der Bundes-wehr.

 

• Aus amerikanischer Sicht und den dortigen Diskussionen stellt sich das Problem - mit einer Parallel-Betrachtung Deutschlands - in der Gefahr einer Überbetonung des „Vom-Einsatz-her-Denkens“ wie folgt dar: „The tactical level of war und garrison routine stand in conflict with the tradition of the educated officer and the civil-military institutions of excellence of militäry professionalism in Germany. This perennial conflict in its contem-porary form poses questions about the efficacy of research and education in the armed forces in Germany and elsewhere in the leading democracies and their armies.“ - Do-nald Abenheim, Prof. Dr., Naval Postgraduate School in Monterey / Cal.und Carolyn Halladay, Dr. Dr., Pennsylvania State University, Erie, Pennsylvenia.

 

• Für Claus von Rosen, Prof. Dr., OTL a.D., Baudissin Dokumentation Zentrum, ist das entscheidende Ziel von Wissenschaft: „die Kraft des Urteilens“ zu entwickeln - ob das auch die Forderung einer „bildungs-orientierten Führung im Truppen-All-Tag, … in der ‚Schlammzone‘“ ist, sei dahingestellt (d. Verf.).

 

• Unter Bezugnahme auf Clausewitz kommt Dirk Freudenberg, Dr., Bundesamt für Bevöl-kerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), zu dem Schluss: die Merkmale militärischer Führungskunst sind der „coup d‘ oeil“, die „courage d’esprit“ und der „Takt des Urteils“ – so erwächst aus der Schulung des Geistes Urteilskraft und so fühlt „ein feiner, durch-dringender Verstand“ die Wahrheit heraus. Deshalb ist gerade in den komplexen Lagen heutiger Zeit geistige / charakterliche Bildung Wesenselement von Führerausbildung – der Leitspruch der Führungsakademie „Mens agitat Molem“ mahnt dazu.

 

Das zweite Kapitel konkretisiert diese Grundsatzaussagen durch „Kritisch-konstruktive Ein-würfe und Hilfestellungen von Fachwissenschaften“ mit folgenden wesentlichen Beiträgen:

 

• Die Engführung im Gefecht - so Kai-Uwe Hellmann, Dr. habil., Fachvertretung der Professur für Soziologie an der HSU/UniBwH - die Beschränkung auf das Wesentliche und zwar „die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung“ und „die Stärkung der eigenen Anschlussfähigkeit“ führt zu einer „strukturellen Entkoppelung zwischen Organisations-system [Streitkräfte] und Interaktionssystem [kleine Kampfgemeinschaft], wodurch besonders abstrakte, interaktionsferne Vorschriften wie die Innere Führung aus dem Blickfeld geraten.“

Seine These: „Will man die ZDv 10/1 wirklich einsatztauglich machen …muss die Vor-schrift den Stresstest viel stärker zum Thema und Problem erheben.“

 

• Für eine „Pädagogik zur Sicherheit“ setzt sich angesichts eines deutlich erweiterten Sicherheitsbegriffs Hans-Joachim Reeb, Dr., Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, ein. Es sei Aufgabe der Pädagogik, „das Individuum für alle Angelegenheiten der Sicherheit handlungsfähig zu machen“. Dieses veränderte Sicherheitsverständnis integriert auch die bisherigen Ideen von Frieden - als Kernbereich des Soldatischen berührt es unmittelbar die Konzeption der Inneren Führung.

 

• Uwe Ulrich, Dr. Dipl. Päd., Führungsakademie der Bundeswehr, von 2008 – 2013 verantwortlich für Aufbau und Betrieb der Zentralen Koordinierungsstelle „Interkulturelle Kompetenz“ am Zentrum Innere Führung, stellt mit dem Entwurf einer Funktionsanalyse Aspekte einer „interkulturellen Didaktik“ vor. Es wird deutlich, wie sehr wissenschaftliche Erkenntnisse und deren Umsetzung dem Erwerb einer Schlüsselqualifikation im Ein-satz dienen kann.

 

• Die Relevanz wissenschaftlicher Konzepte am Beispiel einsatzbedingter psychischer Störungen und deren Rezeption durch die Militärische Führung präsentieren Stefan Siegel, Dr. med., OSA und Jörn Ungerer, Dipl.-Psych., Psychotraumatazentrum Bundeswehr-krankenhauses Berlin. Mit historischem Rückblick stellen sie fest, dass erst die verhältnismäßig junge Begriffskombination PTSB uns mit Hilfe der Stress- und Traumaforschung zu den heutigen Erkenntnissen verhilft. Sie führt zu einem ganzheitlichen Blick mit einer stärkeren Ausrichtung auf eine präventive „psychische Fitness“, deren neuerar-beitetes Konzept (2012) zur Zeit umgesetzt wird.

 

• Eine gute Abrundung erfährt dieses Kapitel durch Uwe Hartmann, Dr., O, International Fellow am US Army War College in Carlisle/PA mit seinen sehr persönlichen Afghanis-tan-Erfahrungen aus dem Jahr 2012/13 und den sich daraus ergebenden Schlüssen zur Wissenschaftsfrage - sein Credo:

o die zivilberufliche Verwertbarkeit des Studiums aus Attraktivitäts- und Fürsorgegründen beibehalten,

o sicherheitspolitisch und militärisch relevante Themen in den Curricula stärker berück-sichtigen (z. B. in Politik-, Staats- und Sozialwissenschaften, Pädagogik),

o ein militärwissenschaftlicher Studiengang für Offiziere mit Berufssoldaten-Zusage,

o Investition in die wissenschaftliche Weiterbildung älterer Stabsoffiziere.

Im Blick auf die Ressourcen der Ressortforschung der Bundeswehr regt Hartmann „möglichst passgenaue Hilfestellungen für die Einsätze“ an - „auch das Zentrum Innere Führung könnte stärker auf wissenschaftliche Expertise zurückgreifen“.

 Erfreuliche Anstöße zu dem zentralen Thema dieses Jahrbuches !

 

Im dritten Kapitel werden unterschiedliche Positionen „Zur Diskussion gestellt“ - hier eine Auswahl:

 

• „Überlegungen zu Militärinterventionen“ sind das Thema von Jens Warburg, Dr., Publizist und Sozialwissenschaftler. Er wirft den politisch Verantwortlichen vor, die derzeit weltweit herrschenden Verhältnisse in erster Linie stabil halten zu wollen.

Für das Risikomanagement heißt das, sich mehr oder minder an kurzfristigen Nutzen- und Machtkalkülen zu orientieren. Hingegen sei ein politscher Gestaltungswille der deutschen und europäischen Administration sehr gering ausgeprägt. Im Zuge dessen wird die politische Exekutive versuchen, nur Befehle für Militäreinsätze mit limitierten Zielen zu erteilen.

Für die befehlsempfangenden Soldaten ergibt sich daraus: Erfolge ihres Handelns werden immer weniger erkennbar - die politisch-gesellschaftlichen Streitigkeiten über die Einsätze werden zunehmen, bis dahin, dass militärische und zivile Sinn- und Wertewelten auseinanderdriften - die Zufriedenheit der Soldaten wird sinken. Am Ende werden sich innerhalb und außerhalb der Streitkräfte militärische Subkulturen entwickeln, die jedwedem demokratischen Politikverständnis feindlich gegenüberstehen.

 Bei aller Provokanz dieser Aussagen - es geht um die Suche nach dem Anteil Wahrheit und den Wegen, solchen Entwicklungen entgegenzuwirken !

 

• Ebenso nachdenklich macht die anspruchsvoll formulierte Analyse von Klaus Naumann, Dr., Hamburger Institut für Sozialforschung, im Blick auf den Stand der Neuausrichtung der Bundeswehr. In Frage stehen nicht allein die Buchstaben, sondern vor allem der „Geist“ der angestoßenen Veränderungsprozesse, so Naumann.

Die veränderten Rahmenbedingungen des Abschiedes vom Primat der Landesverteidigung führen zunehmend zu Akzeptanzproblemen der Sicherheits- und Einsatzpolitik die sich unmittelbar auswirken auf Fragen der Ausrichtung der Streitkräfte, der politisch-militärischen Vernetzung, des gesamtstaatlichen Zusammenhandelns, der strategischen Kommunikationsfähigkeit. So ist der große Wurf einer sicherheitspolitischen Reform aus-geblieben, was sich unmittelbar auf das Vorhaben der „Neuausrichtung“ auswirkt und den Ruf nach der „Reform der Reform“ lauter werden lässt.

Die aktuellen Probleme liegen im Bereich des Operativen / Prozeduralen (das Großexperiment, Ministerium, Truppe und Zivilverwaltung gleichzeitig zu verändern), im konzepti-onell-politischen Zuschnitt (keine strategische Kommunikation über Ziele, Zwecke, Auf-gaben und Leistungen des laufenden sicherheitspolitischen Geschäfts), und im Führungsstil (die Fragen eines strukturierten Dialogs zwischen Politik, Militär und den diversen Öf-fentlichkeiten). Gerade aber mit Letzterem verstößt die Neuausrichtung gegen das Grundverständnis von Innerer Führung.

Im Mittelpunkt des Neuausrichtungskonzeptes steht ein ganz bestimmtes Bild von der wünschenswerten / unumgänglichen deutschen Rolle als Mittel-, Bündnis- und Handels-macht - und damit unmittelbar verbunden sind die Fragen nach der Einsatzfähigkeit (Truppen-/ Einsatzstärke, spezifisches Einsatzprofil, gesteigerte Durchhaltefähigkeit), der Finanzierbarkeit (Sparvorgaben, Personalstärke, sicherheitspolitisches Rollenbild) und der Demographiefestigkeit (Attraktivitätsprogramm, Reformbegleitgesetz, Konzept der Freiwilligendienste). Das alles verlangt von den Akteuren der Sicherheitspolitik, miteinander „redende Partner“ zu werden - also eine Änderung im Denk- und Handlungsstil.

Schließlich die gesellschafts- und staatspolitische Perspektive unter dem Aspekt

o der Sicherheitsvorsorge - die Relativierung des militärischen Faktors in einem „erweiterten“ Sicherheitskonzept - Militär als mit-gestaltender Akteur …

o der Professionalität - die Kompetenz / Beteiligungschance des Bürgers in Sicherheitsfragen …

o der Staatsbürgerlichkeit - der Wandel des Balanceverhältnisses zwischen Staat/Politik, Soldaten und Gesellschaft. Der Soldat rückt dabei mit den optionalen Einsätzen enger an Staat/Politik, gleichzeitig vergrößert sich der Abstand zur Gesellschaft (Rückzug aus der Fläche / Dauereinsätze).

So stellt Naumann am Ende die Frage, „where ist the common sense ?“ Ein roter Faden, so sagt er, zieht sich von den Schwächen der beanspruchten „erweiterten“ Sicherheitspoli-tik über die Defizite des vernetzten Ansatzes zu den Mängeln strategischer Kommunikation bis hin zur Vernachlässigung jener Leitbilder des Führungs- und Handlungsstils, die in den Maximen der Inneren Führung zu Ausdruck kommen.

 Alles in allem ein hoch lesenswerter Beitrag mit einer kompetenten ganzheitlichen Sicht der Erfordernisse heutiger Sicherheitspolitik !

 

• Praktische Einsatzerfahrungen sind Grundlage des Beitrages von Marcel Bohnert, Dipl. Päd., H, HSU/UniBwH. Anhand des Terminus der „Zwei-Welten-Problematik“ schildert er plastisch das Spannungsfeld der „Drinnies“ und „Draußies“ im Einsatz. Diese unter-schiedlichen Welten sieht er aber auch zwischen dem Dienst im Einsatz und am Heimatstandort - zwischen der älteren Soldatengeneration des „Kalten Krieges“ und den einsatzerfahrenen „Jungen“ - sowie zwischen Truppe und Gesellschaft. So prangert er „überkommende Denkstrukturen“ und „stromlinienförmig durch den Dienst gleitende und im Karrieredenken verhaftete Vorgesetzte“ an und fordert das grundlegende Eingeständ-nis, auf Augenhöhe voneinander lernen zu können.

Ebenso zeichnet er das Bild der „Kluft zwischen Militär und Zivilgesellschaft“ – u.a. auch mitverursacht durch teilweise Öffentlichkeitsscheu militärischer Führung.

„Offensives Thematisieren von Diskrepanzen und Konflikte“ verlangt er als Teil einer Führungskultur, um einer „Zwei-Welten-Problematik“ zu begegnen.

 

Zusammenfassung und Bewertung

 

In der Einführung zu diesem Jahrbuch heißt es: „Was die bisherige Debatte über die Innere Führung betrifft, so zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab, der alte Gewohnheiten und Denkmuster beiseite schieben könnte. Initiiert wird dieser Paradigmenwechsel nicht von „ewig gestrigen Militärs“, sondern von Wissenschaftlern wie Kai-Uwe Hellmann oder Klaus Naumann, die außerhalb der Bundeswehr stehen, und von jüngeren, einsatzerfahrenen Offizieren, die über die Auseinandersetzung zwischen Reformern und Traditionalisten höchstens im Unterrichtsfach ‚Militärgeschichte‘ etwas gehört haben dürften.“

Dem ist voll und ganz zuzustimmen - auch dieses Mal ein Jahrbuch mit interessanten, wichtigen und anregenden Beiträgen. Möge der oben zitierte Paradigmenwechsel damit weiter befördert werden. Das Jahrbuch verdient daher eine breite Leserschaft.

 

Oberst a.D. Hubertus Greiner